Warum ist das deutsche Steuerrecht so kompliziert?
... von Franz Fürst
Warum ist das deutsche Steuerrecht so kompliziert?
Hier ist zu unterscheiden:
Das Umsatzsteuerrecht ist EU-Recht und eine Folge von Kompromissen
innerhalb der EU-Länder. Es ist der Gestalt gewordene Ausdruck der
Furcht der einzelnen EU-Staaten, die darin bestand, sie könnten
gegenüber anderen Staaten zu kurz kommen. Die dortige
Kompliziertheit ist weitgehend nicht vom deutschen Gesetzgeber zu
vertreten.
Demgegenüber ist das kaum noch durchschaubare Geflecht des deutschen
Einkommensteuerrechts ein hausgemachtes Flickwerk. Das
Einkommensteuergesetz erfasst nicht alle Einnahmen, sondern nur
solche, die unter eine der 7 Einkunftsarten fallen. Das bedeutet:
Einkünfte unterliegen vom Prinzip her nur ausnahmsweise der
Besteuerung. In der Praxis ist allerdings die Ausnahme die Regel.
Das deutsche Einkommensteuerrecht enthält nicht nur viele Ausnahmen,
sondern auch viele Ausnahmen von der Ausnahme, und man glaubt es
kaum: Ausnahmen von der Ausnahme von der Ausnahme usw. Teils sollen
diese gestaffelten Ausnahmen einer vorgeblichen Steuergerechtigkeit
dienen, teilweise haben Interessengruppen diese,
zum Teil gestaffelten Ausnahmen beim Gesetzgeber erreicht.
Jedenfalls sind alle diese Ausnahmen die Ursache für eine Vielzahl
von steuerlichen Streitsachen, denn es geht immer darum, ob eine
Ausnahme vorliegt oder nicht.
Inzwischen sind in dem Wirrwar des deutschen Einkommensteuerrechts
die Prinzipien von Rechtsklarheit, von Allgemeinverständlichkeit und
Übersichtlichkeit,
und damit auch von Steuergerechtigkeit eindeutig verloren gegangen.
Fast alle Vorschriften sind für den Bürger schlicht unverständlich.
Das liegt nicht nur an der Fachsprache, deren sich der Gesetzgeber
bedient, sondern auch an den Satzungetümen, die in das einst
überschaubare und klar formulierte Einkommensteuergesetz (EStG)
hinein implantiert wurden.
Fast alle mit einem Buchstaben hinter der Ziffer versehenen
Paragraphen haben einen Umfang, der selbst ausgewiesene Kenner des
Steuerrechts vor der Lektüre zurückschrecken lässt und zu mehrfachem
konzentrierten Lesen nötigt. Manche Vorschriften lassen sich
überhaupt nur verstehen, wenn man vorher umfangreiche Erläuterungen
gelesen hat. So ist z. B. zu § 10 e EStG, also zu einer einzigen
Vorschrift, ein Kommentar erschienen, der viele hundert Seiten
umfasst.
Die Folge davon ist: Die Steuerbescheide bedienen sich derselben
unverständlichen
Sprache. Darüber hinaus sind die Steuerbescheide optisch und
graphisch so unübersichtlich, dass der Adressat insgesamt den
Eindruck bekommen muss, er solle absichtlich verwirrt werden und
seine Ohnmacht beim Studium des Bescheides zu spüren bekommen.
Liebloser als ein deutscher Steuerbescheid kann ein Schriftstück
kaum sein. Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit stellt man sich
anders vor.
Vor diesem Hintergrund verwundert es, wenn viele Deutschen das
jetzige komplizierte deutsche Steuerrecht behalten wollen. Bei der
Bundestagswahl 2005 war die Frage wahlentscheidend, ob das
Steuerecht und insbesondere das EStG drastisch vereinfacht oder der
jetzige Zustand beibehalten werden sollte. Die Partei, die für die
Vereinfachung eintrat, führte zunächst in den Meinungsumfragen mit
einem klaren Vorsprung. Da es jedoch im Laufe des Wahlkampfes
gelungen war, die Steuervereinfachungspläne des „Professors aus
Heidelberg“ wider besseres Wissen als sozial ungerecht zu
diffamieren und die Angst in der Bevölkerung zu schüren, war der
Vorsprung der Partei, die für die Steuervereinfachung eintrat, am
Wahlabend fast völlig weg geschmolzen. Ein beachtlicher Teil der
Wähler änderte die ursprüngliche Wahlabsicht allein aus Furcht, zu
den Verlierern der Steuervereinfachung gehören zu können. Dabei
hätten sie genau so gut zu den Gewinnern in Form von niedrigeren
Steuern zählen können. Der ganz große Gewinn eines einfachen und
verständlichen Steuerrechts wurde von einem Großteil der Bevölkerung
nicht gesehen.
Dieser dramatische Verlust in der Wählergunst wegen des Eintretens
für eine Steuervereinfachung wird allen Parteien eine Lehre sein:
Keine Partei wird es in absehbarer Zukunft mehr wagen, dieses heiße
Eisen auch nur anzufassen. Stattdessen ist uns weiteres Flickwerk
und eine ständige weitere Verkomplizierung des EStG so sicher wie
das Amen in der Kirche.
In einer Demokratie bekommt eben jedes Volk das Steuersystem, das es
verdient.